Hobby-Barfuß-Renaissance-Forumein kleines demokratisches Forum für Leute, die gerne barfuß laufen
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Mit den Ohren laufen
in Barfuß und Leben 05.11.2009 11:44von Zausel • | 249 Beiträge | 235 Punkte
Seit vorgestern trage ich zwei Hörgeräte. Nicht daß ich "halb taub" wäre, aber die fürs Verstehen so wichtigen oberen Sprachfrequenzen (Zischlaute etc.) sind bei mir seit längerem weitgehend verschwunden.
Zu meinem Riesenglück scheine ich zu den wenigen zu gehören, die fast keine Adaptionsprobleme haben. Sicher, die Welt hört sich erst einmal ganz anders an; besonders die eigene Stimme hat etwas "technisches" bekommen. Aber im großen und Ganzen: Problemlos.
Mein erstes großes "Aha!"-Erlebnis hatte ich schon, als ich, aus dem Hörgeräte-Geschäft kommend, auf dem Parkplatz zum Auto ging. Irgendetwas schien an den Geräten zu reiben und zu knarzen. Aber da war nichts. Und dann merkte ich, daß direkt hinter mir jemand lief, dessen Schuhe knarrten.
Sowas hatte ich seit Jahren nie gehört!
Aber warum ich es jetzt hier im Barfuß-Forum schreibe:
Für mich ist ja das Barfußlaufen kein "Guck-mal-hier-was-ich-alles-kann-und-jetzt-komme-ich-noch-in-die-Medien-und-den-Großglockner-schaffe-ich-auch-noch-Schaulaufen", sondern ich ziehe ausschließlich für mich und mein Wohlbefinden keine Schuhe an.
Der wundervolle Erfolg und Effekt des Barfußlaufens ist, daß ich mir mit meinen Sohlen einen weiteren Sinn eröffne, der es mir ermöglicht, die Welt in ihrer Oberflächenbeschaffenheit zu erfühlen. Ich nehme die Welt viel subtiler wahr als jemand mit Schuhen.
Nun sind wir ja gewohnt, unsere Sinne miteinander zu verknüpfen: Erst in der Gesamtwahrnehmung wird das Bild unserer Umwelt rund. Wir kennen das vom Fernsehen, wenn Bild und Ton nur wenige Zehntelsekunden asynchron laufen: Das kann einem die ganze Freude vermiesen.
Oder wenn auf einem Schiff Bild und Gleichgewicht auseinanderlaufen: Dann wird die Welt buchstäblich zum Kotzen.
Jetzt, mit den neuen technischen Möglichkeiten, habe ich die Möglichkeit, meinen so wundervollen weiteren Sinn über meine Füße mit dem akustischen Eindruck zu koppeln, der mir über die Jahre völlig abhanden gekommen war:
Ich HÖRE, wie ich über den Teppich schlurfe, ich HÖRE die Treppenstufe knarren, ich HÖRE, wie ich in die Pfütze platsche, ich HÖRE, wie das Laub raschelt. "Rascheln" ist mit die schönste neue Hörerfahrung.
Kurzum:
Die Welt hat für mich dramatisch an Farbigkeit gewonnen.
Und darauf kommt es mir beim Laufen mit natürlichen Füßen an: Die Buntheit und Filigranität der Welt zu erlaufen und sie nicht Schritt für Schritt mit dicken Sohlen zu versiegeln.
Und wenn mir dies so gut gelingt wie jetzt, dann brauche ich kein Schaulaufen für andere.
Fröhliche und jauchzende Grüße
Zausel
Die Dummen haben das Pulver nicht erfunden, aber sie schießen damit.
RE: Mit den Ohren laufen
in Barfuß und Leben 05.11.2009 14:29von Jay • | 788 Beiträge | 695 Punkte
Hi Zausel,
ein wunderschöner Beitrag. Wie ist dir denn das eigentlich mit der offenbar stark deformierten (wohl oberhalb von 2 kHz oder so) Ohren-Audiofrequenzgangkurve passiert? Zuviel hochverstärkte laute Rockmusik selbst gemacht? (ich höre deswegen selber relativ schlecht & werde "auch so" immer mehr zum alten Mann...)
Gewiß gibt es diese Dimension der neuen, bewußten Experience der Welt mit den Füßen per Tast-, Temperatur-, sogar Vibrationssinn (wie meinerseits kürzlich im Walchenseekraftwerk erlebt, was mich an 'Feelgood' unglaublich happy machte).
Dennoch sind meine persönlichen Motive für´s BF-Laufen anders-, mehr komplementärgelagert. Die 'sinnliche' Erfahrung der Welt mit allen (grad' genannten) Wahrnehmungsdimensionen, die die Füße bieten, steht bei mir weniger im Vordergrund als vielmehr endlich diese quälende, unangenehme UNFREIHEIT des weitgehend völlig starr Eingezwängt- & Eingeklemmtseins meiner 'unteren Extremitäten' los zu sein.
Im alten HBF ist der sog. Gefängniseffekt von Schuhen von nicht wenigen Leuten sehr eingehend beschrieben worden. Zu dieser Gruppe gehöre ich auch - ich bin im Alter von ca. 1 Jahr oder so fast wahnsinnig geworden, als ich - erstmals Schuhe verpaßt bekommen habend - alles frei bewegen konnte, nur meine Zehen nicht. Dies ist das 1. & schwerste negativ-psychotraumatische Frühkindheitserlebnis meiner Lebensgeschichte, welches in meinem Gehirn-PROM* sehr bewußt gespeichert ist.
Prima Stimmungsbild aus dem BF-Leben. Danke.
Ob dieses Beitrags ebenfalls sehr fröhliche & jauchzende Grüße
Jay
PS: Engel hat wahrscheinlich in seinen ersten Lebenstagen dasselbe durchgemacht. Das in der HBF-Historie berühmt gewordene Gedicht "Gedanken eines Fußes" (weiß jetzt grad' nicht, ob das im hiesigen Archiv direkt available ist) kündet davon.
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*) Viele werden Schwierigkeiten haben, es zu glauben (aber als ehemaliger LSD-Konsument weiß ich es): JEDE EINZELNE SEKUNDE im Leben eines Menschen wird mit allen Wahrnehmungsdimensionen (optisch, akustisch, Geruch, Geschmack, Tastsinn) samt "Eigenwahrnehmung" (happy, traurig, angstvoll, geistig schwer beschäftigt, angestrengt & dgl.) im Gehirn des Menschen abgespeichert. Nur kann man unter normalen Umständen nur auf das Wenigste davon direkt "zugreifen".
Hallo Zausel,
mal eine technische Frage dazu:
Wie funktioniert das denn mit den Hörgeräten ?
Wenn du bestimmte Frquenzen nicht mehr wahrnimmst - was bewirkt dann das Hörgerät ?
Setzt das Frequenzen um (ähnlich wie man Fledermaustöne hörbar machen kann, indem man sie aus dem Ultraschallbereich in den menschlichen Hörbereich transformiert ?
Oder eher wie ein Restlichverstärker ? Aber dazu muss ja zumindest noch eine Restempfindlichkeit dafür da sein.
Und Jay:
Die Vorstellung, dass der ganze Mist, den ich mal gebaut habe - auch noch mitsamt den zugehörigen Gefühlen -"gespeichert" ist, finde ich ziemlich erschreckend und ich bin froh dass das Gehirn das wohlweislich ins Reich des Vergessens versenkt hat. Werde also wohl besser mal die Finger von LSD lassen... :-)))
RE: Mit den Ohren laufen
in Barfuß und Leben 09.11.2009 13:25von Zausel • | 249 Beiträge | 235 Punkte
Hallo, Manfred,
Nein, eine Frequenzumsetzung findet nicht statt.
Für ein Hörgerät ist immer ein gewisses Resthörvermögen vonnöten. Insofern funktioniert es wirklich ähnlich wie ein Restlichtverstärker.
Im Grunde ist ein Hörgerät nichts anderes als eine unglaublich miniaturisierte Verstärkeranlage mit einem hochempfindlichen Mikrophon und einem außergewöhnlich leistungsstarken Equalizer.
Damit werden eben die Frequenzen, die "abgebaut" haben, so verstärkt und dem Ohr zugeführt, daß man wieder eine etwa lineare Hörkurve hat.
Ich habe zum Glück im niederfrequenten Bereich noch ein recht gutes Hörvermögen, und so wird da gar nichts verstärkt. Das bringt mit sich, daß ich ein (das gibt es noch gar nicht so lange) "offenes" Hörsystem habe. D.h. ich höre den Umgebungsschall völlig normal über den Gehörgang, und nur die "defizitären" Töne werden verstärkt zugeführt, ohne den Gehörgang zu verschließen, wie das normalerweise bei den Hörgeräten der Fall ist. Bei letzteren hört man NUR über das Hörgerät.
Hochkompliziert werden die Geräte wie meines, die noch die Schallereignisse analysieren und über einen Mikro-Computer die Verstärkung der unterschiedlichen Klangbereiche anpassen. So unterscheidet mein Gerät (wie auch immer) Stimmen von Umgebungsgeräuschen und schwächt letztere ab einem bestimmten Pegel ab, so daß die Sprachverständlichkeit erheblich verbessert wird.
Kurze scharfe Geräusche (Klirren, Knall) werden auch in Mikrosekunden erkannt und nicht verstärkt.
Verschiedene Charakteristiken kann man auch noch einprogrammieren und dann eben als Programm wieder aufrufen. So kann das Gerät eben z.B. in einem Rockkonzert ganz anders arbeiten als beim Waldspaziergang.
Und das alles auf wenigen Quadratmillimetern!
Du merkst, ich bin immer noch hingerissen von den Möglichkeiten, die mir heute an die Hand bzw. ins Ohr gegeben sind.
Liebe Grüße
Der Zausel
Die Dummen haben das Pulver nicht erfunden, aber sie schießen damit.
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