Andererseits
...hatte ich mich in den letzten Monaten ganz auf andere Aktionsfelder konzentriert. War öfter in Städten unterwegs, hatte Sommerkleidung gekauft und Menschen getroffen.
Heute, mittags nun trübte sich das Wetter dann ein. Die Vision vom sonnigen Samstagnachmittag löste sich auf. Stattdessen dunkle Gewitterwolken. Ich betrat ein Café, um dort mit mir zu beratschlagen, was passieren sollte. Währenddessen ging ein erster, kurzer Gewitterregen nieder. Doch der Himmel blieb grauschwarz.
Ich beschloss, dem allen zu trotzen.
Ich wollte mal wieder griffige Graswege unter den Sohlen haben...

Doch zunächst machte ich halt an einem Großmarkt, kaufte kurz entschlossen einen brauchbaren Regenschirm. Von da an war mir das Wetter egal, zumal immernoch recht passable 23 Grad herrschten.
Dann fuhr ich ein paar Kilometer ins Dünne.
An einem alten, zum Radweg ausgebauten Bahndamm hielt ich an und begann sogleich den Weg. Schon nach kurzer Zeit lockten herrliche, pralle Wildkirschen an übervollen Zweigen. Ich genoss, wenngleich natürlich die besten im Wipfel für die Vögel vorbehalten blieben. Ich gönnte es ihnen.
Dann Abbiegen, weg vom Bahndamm, seitlich in den Feldweg. Über grün bewachsene Flächen arbeitete ich mich vor. Endlich wieder fühlen, - feuchtes Gras unter den Sohlen, lautlos dahinbewegen im Feld. Da, plötzlich Rehwild im Feld. Ein Böckchen. Es lugt hervor, schaut mich, den lautlosen Wanderer auf natürlichem Schritt nicht scheu, sondern interessiert an, mümmelt die Kornähren und lässt sich nicht stören. Mit Schuhen wäre das nicht passiert.
- Ach, wie oft habe ich auf meinen Barfussgängen in den Natur Wild aus allernächster Nähe betrachtet. Der natürliche Schritt ist es, mit welchem du dich bei den Tieren als einer von ihnen ausweist. Mein Gott, das war mal, vor mehr als 25 Jahren, in Nordhessen. Ich ging einen weichen Wiesenweg in dichtem Wald dahin. Da sah ich den Jäger seinen Hochsitz besteigen. Es war auf einer einwöchigen Barfusswanderung, vielleicht im einsamen Kellerwald. Ich wich dem Jäger aus, bog einfach seitlich in einen lichten Mischwald ein und ging querfeldein ins Dickicht, den Rucksack auf dem Rücken. Da bemerkte ich einen gewaltigen Rothirsch. Er näherte sich, witterte aber wohl eher den Jäger als mich. Aber er sah mich. Ich war fasziniert. Noch nie hatte ich bis dahin Rotwild in der Natur gesehen. Und nun stand er da, bis zu 250 Kilo kann ein Hirsch wiegen. Er trug vielleicht 8 Enden am Geweih.

Diesen Hirsch traf ich vor einigen Jahren allerdings im "magischen Soonwald", wo die Aufnahme entstand.
Was weiter damals in Nordhessen?
Ich sprach ihn leise an: "Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: dort hinten sitzt der Jäger. Das könnte Gefahr bedeuten!" Der Hirsch witterte. Leicht hätte er mich aufspießen können. Vielleicht war ich mehr in Gefahr als er. Doch es passierte nichts. Er nahm mich mit meinem weichen Schritt durchs Unterholz scheinbar als "natürlichen" Grenzgänger. Und er drehte vor dem Jäger bei. Wir verschwanden in verschiedene Richtungen. Er kannte seine Wege. Er witterte sie. Ich war fremd. Aber: ich habe ihn, den König, bis heute nicht vergessen. Und der Jäger: er war erfolglos geblieben. Ihm war ich mit meiner Duftspur unbemerkt durch die Jagd gelaufen. Damit war sein Geschäft für diesen Abend gelaufen.
Damit zurück zum Feldweg. Vor grauem Sommerhimmel passierte ich herrliche Felder. Rechts ein noch stahlgrünes Roggenfeld, mit blauen Kornblumen. Links die Gerste.

Dann näherte ich mich einem Meer von Kornblumen. Bis heute habe ich nicht begriffen, wie sie so planmäßig ungeplant ins Getreidefeld kommen...

Es sind Farbvisionen mit Suchtfaktor.
Was ich mir einmal ans Sterbebett wünsche?
Ein Strauß voll Kornblumen.
Im letzten Blick vor der Ewigkeit versinken in die blaue Blüte, darin verschwimmend, eher verschmelzend, die Augen der geliebten Frau, des geliebten Menschen...

Weiter.
Wieder am Waldrand. Die Füße arbeiten richtig mit mir den Hang hinauf.

Später treffe ich eine Frau. Wir sprechen über ihren Hund, unsere gemeinsamen Hundeerlebnisse. Und schließlich über erfüllte Kindheit, die wenig braucht, um glücklich zu sein. Über barfüssige Kindertage, - ohne dass die Frau auf meine Barfüssigkeit anspricht.
Mensch sein.
Am Boden sein.
Ganz da.

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