Hallo, im November gab es für kurze Zeit ein Railaway-Angebot für das Zürcher Landesmuseum einschließlich Anreise mit der Bahn zum halben Preis, dieses Ticket war 3 Tage gültig. Am Samstag den 17. November 2018 wollte ich von diesem Angebot Gebrauch machen. Das letzte Mal war ich vor 30 Jahren in diesem Museum. Damals wohnte ich noch in Oldenburg, und ich war anläßlich eines Vorstellungsgespräches in Herisau, was ich mit einem Wochenendaufenthalt in Zürich verknüpft hatte. Es war Anfang November, und damals trug ich beim Museumsbesuch Jackett, lange Hose und fette Schuhe. Ich kann mich mehr daran erinnern, ob ich im Museum eine Krawatte um den Hals trug wie beim Vorstellungsgespräch selbst oder in der Reisetasche (in diesem Fall wäre ich also „unecht unbekrawattet“ gewesen). Dieses Mal hatte ich nicht vor, in der gleichen Aufmachung zu erscheinen, wenn man vom Nichttragen einer Mütze einmal absieht. Da ein verwehrter Museumseintritt wegen „unpassender“ Kleidung das kleinere Übel war als das Tragen passender Kleidung, erkundigte ich mich vorher nicht, ob irgendein Dreßcode erforderlich sei. Auch nahm ich keine Notschuhe, keine Not-lange-Hose und keine Notkrawatte mit, sondern radelte einfach los bei etwas nebligen Wetter zum Zofinger Bahnhof, in Trainingsjacke, kurzer Hosen und selbstverständlich barfuß.
Ein Thermometer zeigte +3°C, als ich am Bahnhof ankam und die bereits wartende S-Bahn nach Lenzburg betrat. Entsprechend winterlich waren andere Fahrgäste gekleidet, die auf andere Züge warteten. Pünktlich um 8:18 Uhr fuhr der Zug ab. Als ich in Lenzburg aussteigen wollte und lediglich die Jacke anzog, fragte mich eine dick vermummte ältere Frau in einem Deutsch mit fremdem Akzent, ob ich Hilfe benötigte, was ich verneinte. Als ich in Lenzburg auf den Anschluß wartete (RE ohne Halt bis Zürich HB), stellten mindestens 3 Personen die alberne K-Frage. Der Zug war so voll, daß ich nur einen Stehplatz bekam. In Zürich hatte ich noch eine gute halbe Stunde Zeit, bis da Museum öffnete, also wanderte ich noch zum Central, durch das Niederdorf, über die Quaibrücke und möglichst nah am Limmatufer zurück Richtung Hauptbahnhof bzw. dem benachbarten Landesmuseum: https://de.wikipedia.org/wiki/Landesmuseum_Z%C3%BCrich
Das Museum war gerade geöffnet. Im Eingangsbereich stand ein Museumsangestellter, der sogar den eintretenden Personen die Tür öffnete und freundlich grüßte, unabhängig davon ob man barfuß oder fett beschuht, barhäuptig oder fett bemützt usw. war. Auch an der Kasse, wo ich den Railaway-Bon gegen eine richtige Eintrittskarte tauschte, sagte niemand etwas. Ebenso wurde ich innerhalb des Museums nirgendwo von Museumswärtern deswegen angesprochen. Nachdem ich Rucksack und Jacke im Schließfach verstaut hatte, besuchte ich zuerst den Bereich Schweizer Geschichte. Viel berichten möchte ich dazu nicht, aber immerhin war auf alten Zeichnungen und Photographien zu erkennen, dass in früheren Epochen die Kinder von Büezern und anderen armen Leuten in den Wohnungen barfuß waren oder auch barfuß an Webstühlen hart arbeiten mußten. Ganz anders die Kinder, die mit ihren Eltern das Museum besuchten. Sie waren ausnahmslos fett beschuht und starrten mich teilweise an, wie wenn ich aus einer anderen Epoche oder einem anderen Planeten stamme.
Im Museum gab es auch eine Sonderausstellung, die die 68er Jahre in der Schweiz und speziell in Zürich thematisierte. Es gab sogar einen Hinweise, das einiges nicht unbedingt für Kinder geeignet sei, frei übersetzt: „aus 2zehigen Gründen“. Hielt sich aber in Grenzen. Vermutlich wollte die Museumsleitung mit diesem Hinweis Klagen von besonders spießigen bzw. prüden Besuchern vermeiden. Es war auch ein Flaschenzertrümmerungs-Kunstwerk auf einem niedrigen Podest (ohne Absperrung) ausgestellt, unter der Maschine lag planmäßig ein Haufen Glasscherben. Dort war kein Hinweis „bitte nicht betreten“ oder „Vorsicht Glas“ vorhanden. Es betrat aber auch keiner das Podest, und davor lagen keine Scherben, ich sah tatsächlich genauer hin! Generell waren alle Böden im Museum barfuß ideal begehbar, die Untergründe waren so unterschiedlich, mal Stein, mal Holz, mal Teppich, mal Metall, mal Gummi, nirgendwo Schotter Wieso war ich der einzige, der barfuß war?
Ob mich einige Besucher oder Museumsbedienstete für einen ehemaligen 68er gehalten haben wegen meiner Aufmachung, sozusagen für einen „Althippie“? 1968 war ich gerade mal 12 Jahre alt, lange Haare hatte ich nie getragen. Beatles, Rolling Stones, Jimmy Hendrix usw. mochte ich nicht hören, dafür Peter Alexander, Freddy Quinn und Hans Albers umso lieber. Und Vorbilder waren diejenigen, die sich damals gegen das Füdlibürgertum auflehnten anstatt einer „ordentlichen“ Arbeit nachzugehen, auch nicht. Dazu bin ich viel zu spießig aufgewachsen. Im Museum waren viele Bilder aus damaliger Zeit zu sehen. Aus heutiger Sicht sehen die damaligen Studenten wirklich brav aus, obwohl sie randalierten. Auch die Polizei wirkte auf den damaligen Bildern eher harmlos, obwohl auch sie in Zürich hart durchgriff, um das Zürcher Spießbürgertum zu verteidigen. Jimmy Hendrix hatte nach einem Konzert im Zürcher Hallenstadion gesagt, daß er noch nie einen so brutalen Polizeiansatz gegenüber Konzertbesuchern erlebt hatte wie in Zürich. (Vermutlich haben damals die Konzertbesucher beim Jimmy-Hendrix-Konzert mehr Mobiliar im Hallenstadion zertrümmert als letztes Wochenende beim Trauffer-Konzert.) Damalige Satiriker haben geschrieben, daß auf dem Weltmarkt der Gummi knapp wurde und es zu einer „Radiergummikrise“ kam, weil die Zürcher Stadtpolizei den Gummi für ihre Gummiknüppel benötigte. Hätten die doch lieber die Gummisohlenproduktion statt die Radiergummiproduktion gedrosselt. Ach nein! Dann hätte es ja auch die Polizei getroffen, sie hätte barfuß gegen die Studenten vorgehen müssen!
Im Museum gab es auch noch eine Sonderausstellung zum Schweizer Landesstreik vor hundert Jahren. Da wurde sogar das Militär gegen Streikende eingesetzt, es gab Tote auf beiden Seiten. Man muß aber bedenken, daß rund um die „neutrale“ Schweiz noch der erste Weltkrieg tobte, und man befürchtete, dass die Kommunisten sich ähnlich wie in Rußland durchsetzen. Das waren ohnehin noch andere Zeiten. Man setzte (auch in der Schweiz) gerne mal das fett beschuhte Militär ein, wenn (auch überwiegend fett beschuhte) Arbeiter streikten, etwa beim Bau der ersten Gotthard-Eisenbahntunnels.
Ca. 4 Stunden hatte ich im Museum verbracht. Als ich das Museum verließ, stand der freundliche „Türaufhalter“ immer noch (oder schon wieder, vielleicht wurde er mal abgelöst) an der Tür und sagte „Uf wiederluege!“, was ich mit einem „Tschüß“ entgegnete. Die Gegenwart hatte mich wieder, zu meiner Rechten der Hauptbahnhof, vor mir die Limmat und dahinter das geschäftige Treiben der größten Schweizer Stadt.
Auch schön, zu erfahren dass es doch den allermeisten ganz egal ist, wie man sich kleidet. Ob Schuhe oder Hut, mit oder ohne spielt doch seltener eine Rolle als viele vermuten. Auch in Deutschland geht es meist (ganz)oben und unten ohne.
Der Dame die dich angesprochen hat ob sie dir helfen könne wäre ich nicht gram. Gerade in der heutigen Zeit, bei so viel sozialer Kälte wo viele die Augen verschliessen vor Armut oder Ungerechtigkeit, ist es bemerkenswert dass es noch Menschen gibt die Anteil an ihren Mitmenschen nehmen.
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