"Auf nackten Sohlen
Barfußgehen ist die perfekte Antistresskur. Kaum sind die Füße bloß, fühlt man Freiheit. Also: Nur Mut und die Natur neu erspüren! // Sylvia Meise
Raus aus den Schuhen und: Ahh! Der sonnenwarme Waldboden schmeichelt meinen nackten Füßen. Unwillkürlich gehe ich langsamer. Wie früher als Kind streifen meine Fußsohlen feuchtes Gras, erspüren Fichtenwurzeln und patschen durch einen Bach, der den Weg kreuzt. Sie wollen gar nicht mehr zurück in die Schuhe. Jedenfalls, bis der Schotterweg kommt. Aua! Schluss mit angenehm.
Barfuß-Coach Burkhard Reinberg beruhigt mich: „Das ist alles eine Frage des Trainings.“ Er selbst geht seit 30 Jahren barfuß. Nach einem schweren Bandscheibenvorfall empfahl ihm damals sein Arzt, öfter mal ohne Schuhe zu gehen. Der Tipp kam ihm zunächst absurd vor. Dann probierte er es aus – und blieb dabei. Mittlerweile weiß er, dass Barfußgehen die Fußmuskulatur kräftigt. Das wiederum schont die Wirbelsäule. Seit Jahren hat Reinberg keine Rückenschmerzen mehr.
Sogar Schotterwege machen ihm nichts aus. Anders als viele glauben, liegt das nicht an einer dicken Hornhaut. Im Gegenteil: „Hornhaut ist abgestorbene Haut – und die kriegt man in Schuhen.“ Reinberg hat eine flexible und strapazierfähige Haut, so „wie Hunde an ihren Pfoten.“ Er gibt zu: Wer auch im Alltag nur noch barfuß gehe, brauche dafür Mut. Viele Menschen hätten Sorge, für Freaks gehalten zu werden. Wer aber nur noch mit dem Gedanken beschäftigt sei „Was sollen bloß die Leute denken?“, könne nicht mehr entspannt barfuß gehen.
Hinzu kommt die Angst, man könnte sich verletzen oder andere Menschen könnten einem auf die Füße treten. Deshalb sei es gut, erst einmal zu üben. Bei seinen Führungen auf ausgewählten Barfußpfaden schauen die Teilnehmer anfangs besorgt zu Boden, aber bald werden sie sicherer, schließen die Augen und spüren, wie die 400.000 Nervenenden an ihren Fußsohlen den ungewohnten Untergrund ertasten. Hier gibt’s Holzschnitzel, glatte Kiesel, raue Steine, Gras, Rindenmulch, Baumstämme ...
Barfußlaufen muss man üben
Vor einiger Zeit wanderte Reinberg mit einer Gruppe von 20 Seminarteilnehmern in der Sächsischen Schweiz, alle barfuß. Auf einmal kam ihnen eine andere Wandergruppe entgegen: splitternackt – bis auf die Wanderschuhe an den Füßen. „Ich hab nur gesagt: Mensch Leute, findet den Fehler!“, erzählt der Barfußtrainer lachend.
Reinberg hält Vorträge und führt Wanderungen. Auf seiner Internetseite www.barfuss-trend.de gibt er Praxistipps und teilt seine Erfahrungen. Vor 15 Jahren war er der einzige Barfußtrainer im Netz, inzwischen gibt es diverse Seiten (siehe Kasten). Von einigen kann man den „Leitfaden für Einsteiger“ herunterladen, den Wolfgang Hilden vom barfussblog.de geschrieben hat. Darin warnt er unter anderem vor Schotterwegen (ha!), Scherben auf Grillplätzen, vor Dornen, Bienen und überwuchertem Stacheldraht in Wiesen. Er und seine Partnerin haben immer Pinzette, Pflaster und Desinfektionsspray dabei. Übrigens fahren beide auch barfüßig Fahrrad – ergonomische Pedale machen’s möglich.
Passionierte Barfußläufer wie Reinberg ziehen nicht nur die Schuhe aus, sie verändern auch ihre Art zu gehen: Sie setzen nicht zuerst mit der Ferse, sondern mit dem Vorder- oder Mittelfuß auf. So erreichen sie den Stoßdämpfereffekt, der den Rücken, die Sehnen und die Fußgelenke schont. Wer bewusst barfuß durch die Wohnung geht, kann den Unterschied hören: In der Regel trifft die Ferse zuerst den Boden und kriegt das gesamte Gewicht ab: wump, wump, wump. Barfuß auf einer Treppe gehen wir dagegen sanft zuerst auf dem Fußballen. Diesen Mittelfußgang nutzen Kinder von Natur aus – bis ihre Füße eingesperrt und sie zum Fersengang erzogen werden.
Gelegenheits-Barfußgeher sollten auf schwierigem Untergrund, etwa auf Asphalt, auf Minimal- oder Barfußschuhe ausweichen. Sie sind so konzipiert, dass sich die Füße frei bewegen können: flach, leicht, ohne Dämpfung und mit genügend Platz für die Zehen. Diabetiker und Menschen mit Polyneuropathien (Taubheitsgefühl in den Gliedmaßen wegen einer Nervenerkrankung) sollten weder Barfuß gehen noch Minimalschuhe tragen. Das Risiko, sich zu verletzen, ist bei ihnen zu hoch. Es kann zu Druckstellen und Entzündungen des Fußes kommen.
Ironischerweise sind die meisten Sport- und Straßenschuhe so gebaut, dass sie viele Fußprobleme erst hervorrufen. Der Sportmediziner Matthias Marquardt erläutert: „Die Schuhe sind starr. Sie verhindern die Bewegung der Zehengrundgelenke und damit die Dehnung der Fußsohle.“ So verliere diese ihre Fähigkeit, sich dem unebenen Untergrund anzupassen.
Wer seine Schuhe auszieht und erstmals barfuß geht, hat am Anfang verkürzte Achillessehnen und Wadenmuskeln, erklärt Marquardt. Er rät passionierten Joggern daher, zunächst nur zweimal pro Woche zehn Minuten barfuß auf Rasen oder Sand zu trainieren. Damit kräftige man seine Füße. Anfänger neigten dazu, zu schnell und zu lange barfuß zu joggen. Am Ende hätten sie dann oft mehr Probleme als zuvor.
Ungeübte müssen beim Joggen also besonders vorsichtig sein. Bei vielen anderen Sportarten ist Barfußsein (entsprechendes Training vorausgesetzt) jedoch kein Problem, etwa beim Yoga, Turnen, Slackline, Beachvolleyball ... Sogar Kraft-sport geht ohne Schuhe. Die Erlebnispädagogin Sarah Stumböck vom NEW-Institut in Mainz zum Beispiel knickte beim Hanteltraining immer wieder mit den Füßen um. Bis sie den Tipp bekam, es doch mal barfuß zu versuchen.
Die Natur spüren – echt und unvermittelt
Das klappte so gut, dass sie dachte: „Warum eigentlich nur beim Sport die Schuhe weglassen?“ Das ist zwei Jahre her. Seither trägt sie nur noch selten Schuhe – höchstens einmal Minimalschuhe: im Winter, wenn sie ins Restaurant geht oder mit Kindern unterwegs ist, um im Notfall schnell Hilfe holen zu können. Für sie passt Barfußsein perfekt zum Weniger-ist-mehr-Gedanken der Naturpädagogik: „Mal keinen Handyempfang haben; nicht bequem im Hotel, sondern einfach draußen unterm Sternenhimmel schlafen.“ Und nicht zuletzt die Natur spüren: „Ich will nah am Leben dran sein, echt und unvermittelt – das finde ich am Barfußsein so schön.“
Ähnlich wie Sarah beschreiben alle erfahrenen Barfüßer diesen ganz besonderen Aspekt des Lebens auf nackten Sohlen: Barfuß-Coach Reinberg fühlt sich durch Barfußwandern geerdet. Sportarzt Marquardt schätzt das Wohlfühlmoment: „Eine Viertelstunde barfuß auf dem Rasen zu laufen, hat für mich einen meditativen Effekt.“ Barfußlaufen ist eben eine Lebenseinstellung.
Beim Barfußlaufen ertasten 400.000 Nervenenden an der Fußsohle den Untergrund. Die Haut wird schmutzig – aber strapazierfähig. (© iStockphoto)
Weitere Infos ...
www.barfuss.net
Info-Portal für barfüßige Einsteiger und Fortgeschrittene
www.barfussblog.de
Erfahrungen der Barfußgeher Eva Lockstädt und Wolfgang Hilden
www.barfuss-trend.de
Tipps von Barfuß-Coach und -Trainer Burkhard Reinberg
www.marquardt-running.com
Blog des Sportarztes Matthias Marquardt
Erschienen in Ausgabe 03/2018
Rubrik: Fitness & Gesundheit"
Quelle:
https://cosmia.de/fitness-gesundheit/les...ten-sohlen.html